Als sich die ersten Farben aus dem Grau der Nacht lösen, mag ungewiss viel Zeit verstrichen sein. Das alltäglich stattfindende Rund des Planeten auf dem Weg um sich selbst und die rasante Fahrt, die der Planet im Jahresrund um die Sonne absolviert, das war ihm klar, nimmt man als kleiner, unbedeutender Mensch nie wahr. Mit zusammengekniffenen Augen schaut er zum Horizont, der sich hellrosa gefärbt hat und sich gegen Zenit im Blau des Universums verliert. Kalt muss es sein, da draußen, denkt er. Unendlich kalt. Null Kelvin, um es einmal in von Menschen definierten Werten auszudrücken. Kaum kneift er die Augen zu, kaum öffnet er sie wieder und das Rosa wechselt zu Orange, das Blau blaut und blaut, bis es schließlich im milchigen Weiß des aufsteigenden Dunstes des nahegelegenen Bachs kollabiert. Es ist kalt auf dem Planeten. Noch! Denkt er. Vielleicht der letzte Winter, der den Namen Winter verdient. „Im Sommer haben wir hier 45 Grad!“, hallt das Wort einer bibeltreuen Künstlerin nach, die er am Tag zuvor traf. Da wühlte er gerade im Schlamm. Schuf dieses Kunstwerk. „45 Grad, stellen sie sich das mal vor, alles wird brennen und genauso steht es auch in der Bibel. Die Apokalypse naht.“ Ein Placken Schnee schimmert auf dem winterfahlen Acker. Aus dem Grau der Nacht tritt das Gelb des Lehms zu Tage, dem Hauptbestandteil dieser Erde, dieses Fleckens ‚Leinwand‘, den er am Tag zuvor bearbeitet hat. Die Kurve der Spur folgt einer nicht näher bestimmten mathematischen Formel; sie löst sich von der angestrebten Route, strikt geradeaus, und macht einen nonchalanten Schlenker. Nichts deutet auf eine Absicht hin. Doch genau das ist es. Es gibt keine Zufälle, denkt er. Weiß er! Alles, was der Mensch verändern kann, wird er verändern. Er steigt ein, startet den Motor und legt den Rückwärtsgang ein.
(Aus dem Filmskript ‚Melting Away – Die Erde unter Berlin‘, Moorlander-Biografie von Wim Wenders).
Die Dreharbeiten zu der Dokumentation finden derzeit weltweit an verschiedenen Orten satt. Die beschriebene Szene wurde in den lehmigen Böden der Südwestpfalz, Heiko Moorlanders ehemaliger Heimat, gedreht.
Moorlander behandelte hier sicherlich nicht ungewollt sondern mit seinem (von den Betroffenen) gefürchteten Zwinkersmiley eines der Traumata des Hybridskulpteurs R. H. aus N., der sich immer noch Alberto Giacometti paraphrasierend dahingehend festgelegt hat, dass die Skulptur den Raum schaffe. Aber, so sollen Moorlander-Forscher es herausgefunden haben, der Heiko habe postuliert: „Dann rechne den mal aus!“
Es soll, den historischen Erkenntnissen zufolge, ein Weilchen gedauert haben, bis der Aufgeforderte seine Formeln verfluchte und allein schon deshalb wegwarf, weil er zwar des Rechnens, nicht aber der laut seines Burns „höchsten Matte-Teak“ kundig sei. Immerhin riss er sich zusammen, erfragte nochmals die Variablen „angestrebt“ und „nonchalant“ und antwortete: „Viel Lehm.“
[Quelle: Unveröffentlichter Brief jenes Skulpteurs an Wim Wenders „Best Boy“ mit der Bitte um etwas Raum in der Erde unter Berlin]